Darstellung von Zahlen in Yoko Ogawas Roman "Das Geheimnis der Eulerschen Formel"Ich wurde zunächst (von @BuchRapunzel) gefragt, wie denn im Originaltext von Yoko Ogawa die "Zahlen" dargestellt seien. Darauf hin habe ich folgendes Bild gepostet (noch ohne die zusätzlichen Markierungen): Das ist in der deutschen Ausgabe Seite 66, ab "Unerwartet waren mir die Worte über die Lippen gekommen…". Die Stelle wo die defizienten- und abundanten Zahlen erklärt werden. Wie man sehen kann werden "unsere" Zahlen verwendet.
Weil ich vermutet habe, dass die Fragestellerin "japanische" Zahlen erwartet haben könnte, habe ich praktisch gleichzeitig noch zwei
weitere Tweets abgesetzt. Denn es ist in der Tat so, dass es auch japanische Zahlen gibt. Im wesentlichen Zahlen/Ziffern als
sogenannte Kanji, d.h. Zeichen chinesischen Ursprungs.
Ich wiederhole das in den Tweets gesagte, leicht modifiziert:
Man kann also Zahlen durchaus anders als mit arabischen Ziffern schreiben. Und wie ich etwas später dann feststellte, wird das auch in Ogawas Buch gemacht. Am Anfang von Kapitel 11 steht nämlich:
"一九九三年六月二十四日の新聞に" heisst "(am) 1993 Jahr 6 Monat 24 Tag (stand in der) Zeitung…".
Allerdings werden Zahlen in einem Buch in welchem es im allgemein um "Rechnen" oder gar Mathematik geht NIE mit den
traditionellen japanischen Zeichen geschrieben, sondern dann immer mit "unseren" arabischen Ziffern.
Der traditionelle japanische Schreibstil?Genau. Wie so vieles in Japan, gibt es auch Bücher in zwei verschiedenen Varianten. Einer westlichen - und einer traditionellen japanischen Variante.
Der japanische Schreibstil hat einige Konsequenzen. Man schreibt auf dem Blatt beginnend oben rechts, zeilenweise nach unten, und setzt Zeilen, eigentlich Spalten, von rechts nach links aneinander. Man hört auf dem Blatt also links unten auf. Auf dem nächsten Blatt beginnt man wieder oben rechts, und das bedeutet, dass die Seiten eines Buches in unserem Sinne rückwärts geblättert werden. Darum ist ein japanisches Buch "verkehrt herum" zu lesen, und das schön gestaltete Coverbild befindet sich "hinten". Die ISBN Nummer und der Strichcode sind "vorne".
Beim Schreiben muss man sich kariertes Papier vorstellen. Jedes Zeichen kommt genau in ein Häuschen. Auch ein
Satzzeichen hat ein eigenes Häuschen. Wort- und Satzzwischenräume gibt es keine. Solange man auch Zahlen/Ziffern
im traditionellen Stil schreibt, gibt's kein Problem. Will man jedoch eine Formel oder eine Berechnung
typographisch darstellen, stösst man an Grenzen. Das sieht man in dem ursprünglichen Bild sehr deutlich,
und es war genau das, worauf ich hinweisen wollte mit "das Dilemma Mathematik und japanische Belletristik (im selben Text)".
Es gibt in dem Buch noch Stellen mit Brüchen und folglich mit Bruchstrichen. Dort wird's dann extrem deutlich.
Interessant ist vielleicht noch. Zeitungen werden sowohl als auch gesetzt. Und zwar kommt es ohne weiteres vor, dass auf der gleichen Seite einige Artikel so und andere anders gesetzt werden. Letztlich hängt das vom Inhalt des Artikels ab.
Die (von @serscher aka @tw_lesezirkel gestellte) Frage, warum Zahlen / Ziffern mal so und mal so rum gedreht dargestellt werden
stellt sich tatsächlich.
Grundsätzlich ist klar, dass ich Zahlen mit bis zu zwei Ziffern noch "normal" in ein Häuschen schreiben kann.
Aber eine Zahl wie "8589869056" geht nicht, also muss ich sie auf mehrere Häuschen verteilen.
Die Qualität der ÜbersetzungIch möchte vielleicht abschliessend noch eine Bemerkung loswerden, die sich aktuell in meinem Tweet Entwurfs Ordner befindet, und nun befand, unfertig weil zu lang. Einige von Euch haben die Sprache Ogawas explizit gelobt. Und ja, Ogawas Sprache, zumal im Original, ist ein Genuss. Was mir aber einmal mehr auffällt ist, wie wichtig eine gute Übersetzung ist. Japanisch ist eine delikate Sprache insofern, als dass vieles nicht explizit gesagt wird, obwohl jeder Japaner "genau so" versteht. Im übrigen eine der Schwierigkeiten beim Lernen, auch für Japaner die eine westliche Sprache lernen. Wenn Ogawas Sprache uns anspricht, dann nicht zuletzt, weil es der Übersetzerin gelungen ist, den Sprachstil der Autorin eloquent in unsere Kultur zu übersetzen. Grosses Chapeau! |